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Austrittswelle: Erster Kreisverband löst sich auf

Wut über Landesspitze bei den Freien Wählern

Dienstag, 01. Juni 2021, 21:23 Uhr
Kurz vor der Landtagswahl lösen sich in Sachsen-Anhalt mehrere Kreisvorstände (Dessau-Roßlau, Saalekreis und der Kreisverband der Freien Wähler Mansfeld-Südharz) auf. Infolge dieser Austrittswelle (rund 40 Mitglieder) hat die Partei allein in den vergangenen Tagen mehr als zwölf Prozent ihrer Mitglieder verloren...

Den Grund nennt Thomas Schorsch, der Vorsitzende der Kreisvereinigung Saalekreis: „Wer so handelt wie dieser Landesvorstand, der muss sich nicht wundern, wenn ihm die Mitglieder weglaufen. Allein bei uns sind bereits rund 25 Mitglieder ausgetreten.“

Bundesvorsitzenden Hubert Aiwanger  (Foto: Jochen Miche ) Bundesvorsitzenden Hubert Aiwanger (Foto: Jochen Miche )

Am liebsten ist man unter sich: Der Landesvorstand der Freien Wähler in Sachsen-Anhalt verschweigt seinen Mitgliedern gern Termine und Protokolle. So wurde auch der jüngste Besuch des Bundesvorsitzenden Hubert Aiwanger (Mitte Hintergrund) vor kurzem in Sachsen-Anhalt der Basis verschwiegen. Man wollte keine Problemdebatte – und Aiwanger selbst, der von den Sorgen der Parteibasis hierzulande weiß, ebenfalls nicht. Das Foto entstand in Hohendodeleben bei Magdeburg. Foto: Jochen Miche

Die Kritik an der Landesspitze der Freien Wähler häufte sich in den vergangenen Monaten massiv. Selbstherrlichkeit wurde dem Vorstand um Vorsitzende Andrea Menke vorgeworfen, aber auch fehlendes Interesse an den Fragen und Kritiken vieler Mitglieder. Jens Diederichs, Kreisvorsitzender der Freien Wähler in Mansfeld-Südharz, sagt: „Der Gipfel der Unverschämtheit ist die Ignoranz, mit der der Landesvorstand alle Kritiker in der Partei behandelt. Seit Monaten werden uns alle wichtigen Informationen vorenthalten. Wir erfahren keine Termine und erhalten keinerlei Dokumente. Auf das Protokoll des Landesparteitages vom Januar 2021 warten wir bis heute. Mehrere Kreisvorsitzende wurden vom Landesvorstand sogar von ihren Facebookseiten blockiert, und vom Wahlkampf werden wir regelrecht ausgesperrt. Die Herrschaften, die sich in den Landtag wählen lassen möchten, machen ihr eigenes Ding, ohne die normalen Mitglieder einzubeziehen. Und auf einen Bundesvorsitzenden Hubert Aiwanger können eh die meisten hier verzichten: Er war jüngst in Sachsen-Anhalt zu Besuch und hat, obwohl mehrfach darum gebeten, nicht einen Versuch unternommen, zwischen Basis und Führung zu vermitteln bzw. zu schlichten.“

Zu diesen „Herrschaften“ gehört auch das frühere CDU-Mitglied Nico Schulz. Der Bürgermeister der Kleinstadt Osterburg im Norden Sachsen-Anhalts ist ein Vertrauter des einst fest in der CDU verankerten und auf Karriere hoffenden, dann aber enttäuscht aus der CDU ausgetretenen Ehepaares Andrea und Johannes Menke. Auf Schulz wartet noch in diesem Jahr ein Gerichtsprozess, mit dem die CDU eine fast fünfstellige Summe, die Schulz seiner früheren Partei schuldet, bei ihm eintreiben will. Dabei handelt es sich um so genannte Mandatsträgerabgaben, die üblicherweise gewählte Abgeordnete ihrer Partei, die die Wahl oft erst ermöglicht hat, in monatlichen Raten zahlt. Diesen Solidarbeitrag hat Schulz seiner Partei vorenthalten. Auch bei der Freie Wähler-Führung wird dieses Thema völlig ausgeblendet. Weshalb wohl, fragt sich mancher.

Doch Interna sind nicht das eigentliche Ärgernis, das die Basis aufbringt. Für Frust sorgt auch die Tatsache, dass Schulz seine CDU-Wähler und die Bürger Osterburgs zugunsten seiner möglichen Karriere bei den Freien Wählern im Stich lassen will. Sollte die Sache mit dem Landtag funktionieren, ist er fort, sollte sie schief gehen, hat er weiterhin seinen Job in Osterburg. Viele Menschen fühlen sich von ihm hinters Licht geführt – etwas, das bei den Freien Wählern Methode zu haben scheint, denn dort drängen sich besonders viele Ex-CDUler auf den vorderen Plätzen der Landtagswahlliste.

Die Spannungen in der Partei haben aber nicht nur zu Austritten, sondern auch dazu geführt, dass mehrere gewählte Direktkandidaten zur Landtagswahl ihre Kandidatur zurückgezogen haben. Unter ihnen der Dessau-Roßlauer Kreisvorsitzende Volker Laabs.

Diederichs kritisiert die merkwürdige Mitgliederwerbung des Landesvorstandes. Als „dubios“ bezeichnet er Mitgliederaufnahmen an den Kreisvorständen vorbei. Wie es im Saalekreis und auch in Mansfeld-Südharz geschehen ist. Vermutlich einmalig in der Parteienlandschaft und eine Ungeheuerlichkeit sei die Tatsache, dass sich der Landesvorstand der Freien Wähler weigert, allen Kreisvorständen die tatsächliche Anzahl der dort lebenden Mitglieder zu nennen. Diederichs: „Wir erfahren nicht einmal die Adressen von angeblich in unserem Einzugsgebiet lebenden Mitgliedern.“ Tatsächlich hatte der Landesvorstand der Freien Wähler im März und April zu Wahlkreisveranstaltungen zum Beispiel im Wahlkreis Sangerhausen eingeladen, ohne den Kreisvorsitzenden zu informieren oder die drei am Kreisvorstand vorbei aufgenommenen neuen Mitglieder beim Namen zu nennen.

Von solch dubiosen Vorgängen haben inzwischen auch im Mansfelder Land viele die Nase voll. Deshalb haben sieben der tatsächlich bekannten neun Mitglieder des Kreisverbandes Mansfeld-Südharz bereits schriftlich ihren Austritt aus der Partei erklärt. Selbst wenn es die Mitglieder geben sollte, von denen der Landesvorstand behauptet, dass sie existieren, dürfte die Kreisvereinigung Mansfeld-Südharz nach dieser Austrittswelle praktisch nicht mehr existieren.

Das Vertrauen zwischen Parteibasis und Parteivorstand hat vor längerer Zeit tiefe Risse bekommen. Beispielsweise als die Landesvorsitzende das von den Mitgliedern beschlossene Wahlprogramm zur Landtagswahl ohne Zustimmung der Parteibasis nachträglich gendergerecht umgeschrieben hatte. „Eine Unverschämtheit und ein einzigartiger Vertrauensbruch“ sei das gewesen, war damals kritisiert worden – geändert hat es am Verhalten des Vorstandes nichts.

Überhaupt das Wahlprogramm. Schon bei seiner Verabschiedung wurde Kritik laut, es sei total weichgespült, enthalte keine klaren Aussagen zu den drängenden Fragen der Zeit. Volker Laabs aus Dessau-Roßlau sagt: „Besteuerung der Renten, Atommüll-Endlager, Co2-Steuer, Bildungsinitiativen und innere Sicherheit – das sind Fragen, die ein klares Statement verlangen. Doch nichts gibt es in dieser Richtung. Offenbar ist die Führungsclique der Freien Wähler bereit, mit jedem, der an der Macht ist, ins Bett zu springen. Deshalb fehlen im Wahlprogramm klare politische Aussagen – man könnte ja anecken...“

Klare Statements des Landesvorstandes vermisst die Parteibasis auch zu tagesaktuellen Ereignissen. Zum Beispiel gab es keine Stellungnahme zu den jüngsten antijüdischen Ausschreitungen in Berlin. Die Angst sitzt tief beim Vorstand und den ganzen Ex-CDU-Mitgliedern auf der Liste zur Landtagswahl, etwas zu äußern, womit sie sich bei den etablierten Parteien unbeliebt machen könnten, vermuten Insider. Selbst in einem Wahlwerbespot werden nur schwammige Bemerkungen rund um das Wort „Heimat“ gemacht. Doch wer nicht vor Ende des Spots abschaltet, erlebt noch eine Überraschung. Gegen Ende des Beitrages wird plötzlich gefordert: „Alle kommen mit und kein Kind darf verloren gehen.“ Wegen der undurchsichtigen Informationspolitik in den eigenen Reihen und wegen solch eigenartiger Bemerkungen schütteln immer mehr Freie Wähler ihre Köpfe. Oder verlassen diese Partei – wie es der ehemalige Oberbürgermeister der Stadt Dessau bereits im Januar dieses Jahres getan hat.
Jochen Miche





Autor: nis

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