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Vertreter des Schulamtes sollen Eltern und Lehrer beleidigt haben

Normalunterricht hat in Siersleben begonnen

Freitag, 11. September 2020, 07:20 Uhr
Seit gestern gibt es auch in der Siersleber Grundschule normalen Unterricht. Die hier planmäßig vorgesehenen Lehrerinnen traten erstmals seit Beginn des Schuljahres 2020/21 vor zwei Wochen ihren Dienst an. Bis dahin war ihnen untersagt worden, die Grundschule Siersleben zu betreten und Unterricht durchzuführen...

Geste der Achtung und des Dankes. Eltern und Großeltern applaudieren den acht Lehrkräften, die zwei Wochen lang unterrichtet haben. Ab heute unterrichten die regulären Lehrerinnen. (Foto: J. Miche) Geste der Achtung und des Dankes. Eltern und Großeltern applaudieren den acht Lehrkräften, die zwei Wochen lang unterrichtet haben. Ab heute unterrichten die regulären Lehrerinnen. (Foto: J. Miche)
Der Kampf der Elterninitiative, die die Grundschule erhalten will, und die Hartnäckigkeit ihres Anwaltes führten schließlich zum Erfolg: Das Verwaltungsgericht Halle erzwang in mehreren Urteilen den Beginn des regulären Unterrichts in der Schule.

Diederichs: „Ein historischer Tag“
Noch bis vorgestern stand der Erfolg der Bürgerinitiative in den Sternen. Denn obwohl das Verwaltungsgericht die Aufnahme des Unterrichts in Siersleben gefordert hatte, verweigerte das Schulverwaltungsamt Halle den Einsatz der Lehrer vor Ort. Unter fadenscheinigen Gründen wurde die Entsendung der in Gerbstedt zur Untätigkeit gezwungenen Lehrerinnen nach Siersleben verhindert.

Jens Diederichs, Kreischef Mansfeld-Südharz der Freien Wähler, analysiert die Situation, die zum Neubeginn in Siersleben geführt hat: „Ein weiteres Urteil des Oberverwaltungsgerichts Halle, eine fette Strafandrohung, politische Diskussionen mit einem zunehmend unglaubwürdiger argumentierenden CDU-Bildungsminister Marco Tullner in Magdeburg, der offenkundig alles tat, um seinen CDU-Freunden im Gerbstedter Stadtrat Schützenhilfe gegen die Kinder in Siersleben zu geben, eine kritische Berichterstattung der Medien und die Einsicht der so genannten Christdemokraten, dass sie mit ihrem Kampf gegen kleine Kinder vom Dorf kaum Punkte in den kommenden Wahlkämpfen (Landrats- und Landtagswahl 2021) sammeln können: All das führte zur Aufnahme des normalen Schulbetriebs. Einsicht, Freude oder neu erwachter Optimismus, dass auch Dörfer schulisch gesehen eine Zukunft haben können, fehlen bei denen, die heute die Lehrerinnen nach Siersleben geschickt haben. Es ist ein historischer Tag, der beweist, dass bürgerschaftliches Engagement Unglaubliches zu leisten vermag. Aber es zeigt sich auch, dass die Beteiligten weiterhin auf der Hut sein müssen.“

Akt zivilen Ungehorsams
Mit Aufnahme ihrer Arbeit in den Klassen der Grundschule lösten die „regulären“ Lehrerinnen gestern jene sieben Kolleginnen und einen Kollegen ab, die seit dem 27. August in Siersleben knapp 50 Kinder in einem Akt zivilen Ungehorsams unterrichtet hatten. Diese Kinder sollten nach dem Willen der CDU der Einheitsgemeinde und dessen Parteifreunden in den Ämtern, im Landesschulamt Halle und in der Regierung in Magdeburg in die Gerbstedter Grundschule gezwungen werden, wogegen sich die Eltern aber zur Wehr setzten. „Der Kampf war hart“, meinte der Vorsitzende der Elterninitiative, Jens Oertel, gestern, „aber er hat sich gelohnt.“ Er und viele weitere Eltern, Großeltern und Unterstützer, wie beispielsweise der Senior-Partner der Initiative, Henning Rost, spendeten den Lehrerinnen und dem Lehrer, die mit hoher Professionalität und Gewissenhaftigkeit zwei Wochen die Kinder unterrichtet hatten, einen großen Applaus.

Unglaublich positive Reaktionen
Eine der pensionierten Lehrerinnen, Barbara Ehrenberg, war gemeinsam mit ihrem Mann Reiner, der wie sie seit den sechziger Jahren an der Schule war, Ende August 2020 zur Stelle gewesen, als bekannt wurde, dass die Eltern ihre Kinder nicht wochentäglich nach Gerbstedt transportieren, sondern in der Heimat, in Siersleben, beschulen lassen wollen. So unfassbar dieses Ereignis war, sich dem Urteil der Dorfschulgegner in Gerbstedt, Halle und Magdeburg zu widersetzen, so unglaublich waren die Reaktionen einiger Leute in Siersleben auf diese einmalige Tat: Es kam vor, dass Menschen einen der in der Schule Dienst tuenden Lehrer auf offener Straße umarmten und dankten für seinen selbstlosen Dienst, es gab einen breiten fröhlich-optimistischen Ruck, der viele Menschen wieder einander näher brachte und für eine äußerst positive Stimmung im Ort sorgte.

Die weiteren sechs Lehrerinnen, die sich nicht von den Dorfschulgegnern hatten abschrecken lassen, sondern trotz teilweise weitem Anreiseweg unterrichtet haben, waren Doris Bährmann, Anneliese Reinhardt, Barbara Heiden, Monika Brodtke, Waltraud Westphal und Claudia Becker. Wäre gestern nicht dank des Verwaltungsgerichtsurteils Normalität eingekehrt, hätten drei weitere pensionierte Lehrerinnen auf der Matte, sprich: in den Klassenzimmern gestanden. Jens Diederichs, der seit jeher für den Erhalt von Dorfschulen kämpft, sagte gestern msh-online: „Ich bin unglaublich bewegt von der Solidarität, die hier bewiesen wurde. Lehrerinnen und Lehrer wurden auf einer regelrechten Sympathiewelle getragen, was ihnen bestimmt auch die Arbeit erleichtert und den Erfolg bei den Kindern vergrößert hat.“

Schulsekretärin war Mädchen für alles
Diederichs geht noch weiter: „Dass die Siersleber und Thondorfer ihren Kindern die Schule erhalten konnten, ist unfassbar. Hier haben neben der Elterninitiative aber auch andere Unterstützer Großartiges geleistet. Ich erfuhr, dass Sierslebens parteiloser Ortsbürgermeister Marco Modesti seit sieben Jahren als Vorsitzender des Schulfördervereins mit seinen Freunden für die Schule kämpft. Ein weiterer Name hat sich bis nach Magdeburg, wo gerade drei Sitzungstage laufen, herumgesprochen: Kathleen Twardy. Ich erfuhr von dem Kompliment, das die Lehrerinnen ihr, der Schulsekretärin, zollen. Frau Ehrenberg war des Lobes voll, denn es gab in den vergangenen Wochen keine Schulleiterin, welche Entscheidungen getroffen hätte und sich um die tausend kleinen und großen Dinge kümmerte, die Schule erst gelingen lassen. Diese Frau hat sich um alles mit größtem Fleiß und großer Bescheidenheit gekümmert. Auch ihr kann ich von Magdeburg aus nur ein riesengroßes Dankeschön zurufen.“

Polizeischutz für die Frau vom Amt
Diederichs sind Probleme in der Bildung nicht fremd. Als in der DDR ausgebildeter Diplom-Ingenieurpädagoge weiß er, dass zum Erreichen eines Bildungsziels das Wissen und die Menschlichkeit der Pädagogen allein oft nicht genügen. Es gehören auch die ungezählten praktischen Voraussetzungen dazu, um Erfolg zu haben. „Und dazu braucht man mehr Partner als Gegner“, sagt er. Letztere verschwinden an der Grundschule Siersleben offenkundig auch nicht mit Rückkehr zur Normalität. Dafür gibt es viele Indizien. Zum Beispiel eine Frau Peters vom Landesschulamt, die demonstrativ mit Polizeischutz erschien und gleich mal einige Siersleber anzeigte, weil sie sich von denen bedrängt gefühlt habe, aber die in Sachen Erziehung bzw. Kinderstube offensichtlich selber Defizite hat, wie sich zeigte, wenn sie grußlos an den Siersleber Eltern und Unterstützern vorbeirauschte.

Einen Hinweis darauf, was man im Landesschulamt von der Siersleber Widerspenstigkeit hält, gab auch eine Frau Ortwein vom Landesamt für Verbraucherschutz, einem nachgeordneten Bereich des Sozialministeriums. Als sich ihr gestern Vormittag der msh-online-Reporter freundlich vorstellte, herrschte sie ihn grußlos an: „Es gibt ein Recht darauf, sich nicht fotografieren zu lassen, und davon mache ich Gebrauch!“

Verbitterte Gesichter fotografiere ich nie‘, wollte er schon entgegnen, entschied sich aber für die Frage, was das Verbraucherschutzamt hier schützen wolle – Lehrer, Kinder, die Interessen des Schulamtes oder der CDU des Gerbstedter Stadtrates…? Er solle sich an ihre Vorgesetzten wenden – wer diese sind, verriet sie nicht. (Der Autor klingelte sich beim Versuch, diese Vorgesetzten telefonisch zu ermitteln, durch sechs Behördenbüros in Magdeburg, Halle und Dessau. Als er den Vorgesetzten in Halle gefunden hatte, war dieser in Sitzungen gebunden.)

„Klappe halten!“
Als eine Mutter der Frau vom Amt anbot, ihr den Weg zur Schule zu zeigen, hatte Frau Ortwein genug von der Siersleber Freundlichkeit. Sie schrie die knapp zehnköpfige Gruppe an: „Klappe halten!“ Der alte Lehrer Reiner Ehrenberg hielt sich jedoch nicht an den Befehl der Verbraucherschützerin. Er meinte: „Das ist ja ein tolles Niveau, das in Ihrem Amt herrscht. Ihre Überheblichkeit zeigt doch deutlich, wie Sie zu unserer Schule stehen.“

Eine Stunde vor diesem Eklat hatte der Bürgermeister der Einheitsgemeinde Gerbstedt, Bernd Hartwig (parteilos), der Elterninitiative zu dem Erfolg des regulären Schulbeginns gratuliert und seinen Dank in diese zwei Sätze gekleidet: „Das haben Sie erreicht. Heute ist ein guter Tag für die Kinder.“ Das glaubte zweifellos jedes Elternteil und jeder Freund der Grundschule Siersleben. Es hätte tatsächlich ein guter Tag werden können, doch nicht einmal an einem so unbeschwerten Tag verkniffen es sich die Dorfschulgegner vom Amt, Menschen zu beleidigen und Macht zu demonstrieren.

An Neidhammel und im Dienst unbefriedigt gebliebene Amtsschimmel hatte Jens Diederichs offenbar gedacht, als er den Satz sagte: „Um Erfolg zu haben, braucht man mehr Partner als Gegner.“
Jochen Miche
Autor: red

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