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Elterninitiative hat Erfolg

Landesschulamt bringt Polizei statt Lehrer mit

Donnerstag, 10. September 2020, 07:52 Uhr
„Das ist ungeheuerlich. Statt Lehrer bringt das Landesschulamt Polizisten mit zur Grundschule Siersleben. Langsam nimmt das Treiben dieses Amtes Formen an, die zum Himmel stinken“, empört sich der Kreisvorsitzende der Freien Wähler, Jens Diederichs, über den Vorfall, der sich Mittwochmorgen vor der Grundschule Siersleben abgespielt hat...

Die Grundschule Siersleben (Foto: J. Miche) Die Grundschule Siersleben (Foto: J. Miche)

Dort tauchten zwei Mitarbeiter des Landesschulamtes Halle in Begleitung von vier Polizeibeamten auf. Jens Oertel, der Vorsitzende der Elterninitiative zur Rettung der Grundschule Siersleben, war neben zahlreichen anderen Eltern vor Ort. Mit Entsetzen registrierte er diese Drohgebärde der Behörden, die stark an den Versuch eines Eisleber CDU-Anwaltes erinnerte, der im vergangenen Jahr die widerspenstige Siersleber Elterninitiative – natürlich erfolglos – zu kriminalisieren versucht hatte. Was will die Polizei vor der Schule, fragte sich Jens Oertel. Er vermutete: „Die wollen uns einschüchtern und zermürben, um doch noch ihren Willen durchzusetzen. Die können nicht akzeptieren, dass unsere Kinder nicht in die Grundschule Gerbstedt gehen. Durch das Landesschulamt wird ständig Recht und Gesetz auf schlimmste Art und Weise ausgehebelt.“

Schlag ins Gesicht der CDU-Stadträte
Tatsächlich sollte am Mittwoch an der Grundschule Siersleben wieder der normale Unterricht beginnen. Seit Schulstart am Donnerstag, dem 27. August, werden die Kinder auf freiwilliger Basis von bereits pensionierten Lehrerinnen in ihrer Heimatschule unterrichtet.

Der Start ins neue Schuljahr im eigenen Ort war am Tag zuvor, am 26. August, vom Oberverwaltungsgericht Halle beschlossen worden. Das hatte für Riesenfreude bei den Siersleber und Thondorfer Eltern der Grundschüler gesorgt, war aber zugleich ein Schlag ins Gesicht der Gerbstedter Stadträte gewesen, die im vergangenen Jahr dem Drängen des früheren CDU-Bürgermeisters Schwarz und der CDU-Fraktion des Stadtrates gefolgt waren und die Schließung der Grundschule Siersleben beschlossen hatten.

Nachdem sich eine Elterninitiative mit dem Ziel gegründet hatte, den Schulbetrieb in Siersleben aufrecht zu erhalten, hatten sich die Fronten verhärtet. Es war zu einem Rechtsstreit gekommen, in dem die CDU-Anhänger einen Kampf nach dem anderen verloren, allerdings immer wieder neue Mittel ins Feld führten. Das Ziel war klar: Langfristiger Erhalt der Gerbstedter Grundschule durch Auffüllen der Klassenzimmer mit Dorfkindern. Die CDU-Fraktion holte sich sogar politische Verstärkung nach Gerbstedt – CDU-Staatssekretärin Eva Feußner aus Magdeburg. Sie redete die Gerbstedter Grundschule schön, argumentierte und warb nach Kräften für den Standort. Gegen sie und ihre Argumente sprachen jedoch massive bauliche Mängel, die Fachleute in der Gerbstedter Grundschule festgestellt hatten – von unzureichenden Fluchtmöglichkeiten der Kinder bei Brand bis hin zu undefinierbaren Dauergerüchen in Klassenzimmern war die Rede.

Alles half nichts. Als Retter in der Not der Gerbstedter CDU-ler musste nun das Schulverwaltungsamt Halle herhalten. Das erklärte: In der Siersleber Grundschule darf nicht unterrichtet werden, weil es massive Brandschutzprobleme gibt: Es fehlt ein zweiter Rettungsweg und es besteht keine Möglichkeit, das Treppenhaus im Fall der Fälle rauchdicht abzuschließen.

Mit dem Leben der Kinder gespielt?
Die Firma, die die Untersuchung vorgenommen hat, arbeitet seit Jahren für die Landesbehörden. Jens Diederichs meint: „Das riecht zwar ein wenig nach einem Gefälligkeitsgutachten für das Schulverwaltungsamt – man möchte ja schließlich auch in Zukunft Aufträge erhalten -, doch ist das nicht mein Problem an diesem Untersuchungsergebnis. Ich frage mich ernsthaft: Hat die Firma medical airport service diese Mängel bei früheren Untersuchungen nicht festgestellt? Oder haben die das festgestellt und protokolliert, aber die Verwaltung in Siersleben bzw. Gerbstedt hat diese Warnungen ignoriert und die Probleme einfach ausgesessen, statt sie abzustellen? Egal, wer schuld hat: Wenn das aktuelle Ergebnis wirklich so deutlich ist, dass das Landesschulamt – natürlich mit Unterstützung des Bauordnungsamtes des Landkreises – die Schule schließen muss, dann ist doch offensichtlich, dass hier jahrzehntelang mit der Gesundheit und dem Leben der Kinder und Lehrer gespielt wurde. Schwarz & Co. haben echt riskiert, dass im schlimmsten Fall Kinder sterben! Ich darf nicht weiter darüber nachdenken! Unfassbar ist aber auch die Haltung des Schulamtes, das ebenfalls nichts getan hat, um diese Zustände zu beseitigen. – Im Übrigen will ich hier gar nicht erst nach den Sicherheitsbelangen in der Gerbstedter Schule fragen, in die die CDU-Stadträte die Siersleber und Thondorfer Kinder stecken wollten.“

Sollte Schließung Versäumnisse verbergen?
Diederich, der als fraktionsloser Abgeordneter für die Freien Wähler im Landtag sitzt, sieht in dem ganzen Gezerre um die Grundschule Siersleben eine unsaubere Aktion der CDU, „die nicht das Wohl der Kinder aus Thondorf und Siersleben, sondern ausschließlich ihr Ziel interessiert: eine weitere Dorfschule dicht zu machen“.

Teile der alten Siersleber Schule (Foto: J. Miche) Teile der alten Siersleber Schule (Foto: J. Miche)

Mit der Schließung der Schule hätte die CDU einen eleganten Weg gefunden, die jahrzehntelangen Vernachlässigungen ihres einstigen CDU-Bürgermeisters Siegfried Schwarz im Bereich der Sicherheit an der Siersleber Grundschule vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Jens Diederichs vermutet, dass erst der Elterninitiative zu verdanken ist, dass die Schlampereien nun aufgedeckt wurden. Diederichs: „Fatalerweise nutzt der ganze CDU-Klüngel die von ihm selbst verursachten Schweinereien jetzt, um gegen die Elterninitiative zu kämpfen, statt endlich mal aufzuwachen und mitzuhelfen, den Schaden zu begrenzen. Und der Gipfel ist, was der einstige Kurzzeitfinanzminister Schröder abliefert: Er schwafelt im CDU-Wahlkampf von seinen tollen Kontakten und seiner Vernetzung, die er als möglicher Landrat zur Entwicklung von Mansfeld-Südharz einbringen will. Doch was passiert, wenn es um Kinder und damit unsere Zukunft geht? Nichts! Der hat null Ambitionen, auch nur einen Finger für Dorfschulen krumm zu machen.“

Diese Aufgabe obliegt dem erst seit diesem Jahr amtierenden neuen Bürgermeister der Einheitsgemeinde Gerbstedt, Bernd Hartwig (parteilos), der sich mit dem unrühmlichen Erbe von Schwarz herumschlagen muss. Hartwig befand sich bis zu den Rechtssprechungen des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt in einem Dilemma. Monatelang saß ihm sein Dienstvorgesetzter, der CDU-dominierte Stadtrat, im Nacken, der alles daran setzte, die Schulen in Siersleben und später in Heiligenthal zu schließen. Auf der anderen Seite hatte sich Hartwig lange Zeit für Schulvielfalt und Erhalt der Dorfschulen ausgesprochen. Erschwerend für seine und die Siersleber Situation kam hinzu, dass die Stadtratsdebatte um die Schulschließungspläne einige Eltern derart verunsichert hatte, dass sie ihre Kinder vorsichtshalber in Privatschulen der Umgebung anmeldeten. Die Folge war eine weitere Verringerung der Schülerzahlen.

Klassenzimmer werden hergerichtet
Im Gespräch mit Bürgermeister Hartwig erklärte er gestern: „Das Gericht hat geurteilt, ich bin nun verpflichtet, schnellstmöglich den Schulbetrieb zu organisieren.“ Am Mittag sah er sich in einem der Gebäude der Siersleber Grundschule Räume an, die in kürzester Zeit für den Unterricht ertüchtigt werden sollen.

Donnerstag übernehmen die Lehrerinnen
Am Rande der Landtagssitzung am Mittwoch sprach Jens Diederichs mit Bildungsminister Marco Tullner (CDU) über das Problem Grundschule Siersleben. Tullner versprach Diederichs am Ende des Gesprächs: „Morgen übernehmen die Lehrerinnen ihren Dienst.“

Heute früh werden in Siersleben also die zwei „offiziellen“ Lehrerinnen erwartet und mit Sicherheit von vielen Eltern und Medienvertretern dankbar und fröhlich begrüßt. An dieser Entscheidung haben viele einen wichtigen Anteil. Claudia Look, Mitglied der kämpferischen Elterninitiative, sagte: „Wir haben richtig Glück mit unserem Rechtsanwalt. Jens Stiehler aus Halle setzt sich unglaublich für uns ein. Wir verdanken ihm viel.“

Das Lob der Mutter einer Grundschülerin aus Thondorf geben die Anwälte allerdings indirekt zurück. Nach dem aktuellen Urteil des Oberverwaltungsgerichtes beurteilt die Internetseite „anwalt.de“ seit gestern Abend Leistung und Ergebnis der Siersleber Elterninitiative mit diesen Worten: „Bürgerschaftliches Engagement und ein langer Kampf wurden rechtsstaatlich geadelt.“
Jochen Miche
Autor: red

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