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Deutsche dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung

Die Unfähigkeit zum Diskurs nervt

Dienstag, 08. Oktober 2019, 17:56 Uhr
„Die Unfähigkeit zu trauern“ attestierte das Psychologen-Ehepaar Alexander und Margarete Mitscherlich der jungen Bundesrepublik. Damit durchbrachen sie die Blockade bei der unbewältigten Vergangenheit des Nazi-Regimes. Angst, Schuld und Scham der Kriegsgeneration lasteten noch lange auf der westdeutschen Gesellschaft...


„Die Unfähigkeit zu debattieren“ hält heute noch Bürger in Ostdeutschland befangen, die den „Verlust“ der DDR nicht verkraftet haben. Ostalgie verklärt ihren Blick auf den unaufhaltsamen Untergang des Honecker-Staates. Die große Verheißung der Freiheit wird in kleinlicher Manier mit ein paar noch fehlenden Renten-€ aufgerechnet.

George Orwell („1984“) würde staunen, wie heute noch nnz-Leser seine These vom „Umtausch“ der Wahrheit in totalitären Regimen bedienen. Vielen fehlt die Einsicht, dass auch die Argumente anderer, eine unterschiedliche Sichtweise oder gegenteilige Meinungen richtig sein können. In solchen Betonköpfen gilt wohl noch „die Partei, die Partei hat immer recht“.

Beliebige Beispiele aus jüngster Zeit: Fremdenfeindlichkeit war schon ein Übel in der DDR. Das Wort „Fidschi“ wurde abträglich gebraucht. Jetzt wollte eine/r den Lesern weismachen, es habe eine positive Bedeutung gehabt. Unsinn – in Wikipedia wird es eindeutig als Schimpfwort definiert. Ein Vietnamese an der Universität Zürich bestätigt, wie seine Eltern in der DDR unter Beleidigungen gelitten haben. Aus Unwissenheit und Arroganz seien seine Landsleute diskriminiert worden.

Aus bornierter Sturheit erkennen DDR-Apologeten simple Fakten wie 1+1=2 nicht an. Schon ein Erstklässler hat die ökonomische Einsicht, dass ein Unternehmen nicht existieren kann, wenn zum Beispiel die Produktionskosten um das Fünffache über dem Weltmarkpreis liegen. Trotz aller Selbstüberschätzung (von wegen „zehntgrößte Industrienation“) waren als Ramschware an Versandhäuser im Westen gelieferte DDR-Erzeugnisse keine Erfolgsgeschichte.

Armselig ist auch das Vokabular einiger nnz-Trolle. Sie werfen mit Worthülsen um sich wie „unterste Schublade“, „übers Stöckchen springen“, „was Falsches geraucht“, „wie Löwenthal oder Schnitzler“,
„Anti-DDR-Hetzer“ etc. und tragen selten etwas zum Diskurs unstrittiger Fakten und fundierter Ansichten bei. Mehr gute Laune und Zuversicht würden dem Osten gut tun. „Abgehängte Regionen“ gibt es auch im Westen, ebenso Altersarmut. Vieles mehr ist kein Grund zum Feiern, aber auch nicht zu böswilligem Trübsalblasen.

Nicht selten ersetzen pöbelhafte Invektien den Austausch von sachlichen Argumenten. Krampfhafte Rechthaberei lässt jeden Keim einer offenen Debatte ersticken. Von Journalismus haben diese „Lügenpresse“-Apostel kaum eine Ahnung. Nicht der Überbringer schlechter Nachrichten ist zu tadeln, denn das ist seine Chronistenpflicht. Ein Journalist braucht auch kein Allwissender zu sein, sondern er sollte nur möglichst objektiv und wahrheitsgetreu berichten. Eben nicht „parteiisch“ wie einst Volkskorrespondenten. So irrwitzig wie die Anmaßung, eine Meldung sei nicht vollständig, wenn sie nicht bei Adam und Eva beginne, ist der Vorwurf des bewussten Weglassens.

Alexander Osang, Schriftsteller eines Romans über seine russische Großmutter, findet die Larmoyanz seiner Ex-DDR-ler schäbig: „Niemand soll meine Lebensleistung anerkennen. Abgesehen von meiner Mutter.“ Wann hätte ein Bergbauer in Bayern oder ein Krabbenfischer in Nordfriedland nach der Wiedervereinigung um Anerkennung für seine Pakete an Verwandte „drüben“ gebettelt? Wer allerdings von Geburt an bis zum Lebensende staatlich bevormundet zu sein wünschte, der kam sich nach 1989, auf sich selbst gestellt, unsicher vor.

„Der Sozialismus, der doch nur Gutes und Humanes im Schilde führte, war der Verlierer. Und da Verlierer nachtragend sind im Ringen der Systeme ist im Osten … „ wie von Veteranen aller Diktaturen zu hören: Es war nicht alles schlecht!“

Lucas Vogelsang und Joachim Król berichten nach Rundreisen durch die neuen Bundesländer: „Viel ist seit der Wiedervereinigung geschrieben worden: Freudiges, Kluges und allerhand Lamento. Die Einheit als vertane Chance, als bloßer Raubzug des Westens oder – je nach Gusto – als Milliarden-Subventions-Absauganlage des Ostens.“ Scheinbar korrekt: Es gab keine Arbeitslosen, weil „Asoziale“ im Knast verschwanden und „Vollbeschäftigte“ während der Arbeitszeit nach Obst und Gemüse anstanden.
Manfred Neuber
Autor: red

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