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Sportler siegten „zu Ehren“ der Genossen

Sonnabend, 16. März 2019, 16:02 Uhr
Schallendes Gelächter würde durch den deutschen Blätterwald rauschen, wenn unsere neuere Zeitrechnung nach der Abfolge von Parteikongressen (Neuwahl von AKK, Rücktritt von Schulz, Godesberger Programm) eingeteilt wäre. In der DDR jedoch gab es ein parteiisches Kalendarium, das anderen Ereignissen des öffentlichen Lebens aufgestülpt wurde...


„Zur Tätigkeit des Kulturbundes der DDR vor und nach dem IX. Parteitag der SED im Kreis Nordhausen“ war ein Bericht in der ersten Ausgabe der Publikation „Beiträge zur Geschichte aus Stadt und Kreis Nordhausen“ im Jahre 1977 überschrieben. Der folgende Band erhellte den geneigten Leser über „Die Ent-wicklung des Kulturbundes im Kreis Nordhausen von den Anfängen bis zur 2. Parteikonferenz der SED 1952“.

Diese Art der Anbiederung an das Regime, dieser vorauseilende Gehorsam gegenüber der Zensur ließ im Kulturschaffen in den folgenden Jahren etwas nach. Umso mehr eiferten Aktivisten in den volkseigenen Betrieben einem Adolf Hennecke nach, oder die Belegschaft wurde mit Hinweis auf einen bevorstehenden Parteitag zu „freiwilligen“ Sonderschichten verpflichtet. „Die wo beim Daimler schaffe“ hätten sich kaputt gelacht.

Diese Form der Selbstausbeutung durch Übersoll im Arbeiter- und Bauernstaat brachte dem „Held der Arbeit“ zunächst 1,5 kg Fett, drei Schachteln Zigaretten, eine Flasche Schnaps, 50 Mark der DDR und einen Blumenstrauß ein. Schließlich erhielt er höchste staatliche Auszeichnungen und Orden und stieg von unter Tage ins SED-Politbüro auf. Sein Vorbild war Kumpel Alexei Stachanow in der Sowjetunion.

„Zu Ehren des (so-und-so-vielten) Parteitages der SED“ legten sich mit staatlichem Doping geweihte Sportler ins Zeug. Was schon mit talentierten Kindern und Jugendlichen zur Leistungssteigerung geschah, davon hatten die Eltern in den wenigsten Fällen eine Ahnung. „Chemische Versuche am Menschen“ führtem tatsächlich zum „Weltniveau“, das die an Minderwertigkeitskomplexen leidende Nomenklatura so sehnlichst anstrebte.

Was nicht alles zu Ehren eines Parteitages geschah! Als 1964 die dritte Modellreihe des Trabants – laut DDR-Werbung „der Wagen für moderne Menschen“ –
produziert wurde, rollte er ebenfalls zum Ruhme des SED-Palavers. Der Trabant 601 erreichte bis zur Einstellung der Produktion im April 1991 die höchste Stückzahl. Aber Walter Ulbrichts frühere Forderung „Überholen ohne einzuholen“ des Westens hat der „Plastik-Bomber“ nicht geschafft.

Wie lächerlich es heute auch klingt, zu Ehren von SED-Parteitagen haben Kinder in Kitas ihre Zähne besonders gut geputzt, von Schülern wurden die Haus-aufgaben extra fleißig erledigt, gesellschaftliche Gruppen erhöhten ihren Eifer bei Altmaterial-Sammlungen, und Studenten der Arbeiter- und Bauernfakultät verpflichteten sich zu noch besserem Lernen. Um die Mängel in der DDR abzustellen, hätte jede Woche ein Parteitag sein müssen. Martin Roland

Autor: red

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